Sozialismus zum Sonnenaufgang: Kleiner Morgenspaziergang zum Staatsratsgebäude

Man kann nicht sagen, dass ich eine Frühaufsteherin wäre. Aber dieser Tag hat einfach zu wenig Stunden. Wenn ich heute jenseits meines Büros etwas von Berlin sehen will, dann darf ich den Wecker ausnahmsweise nicht ignorieren. Um 7.30 Uhr verlasse ich meine Wohnung. Pünktlich um 8.16 Uhr erreiche ich nach meinem winterlichen Morgenspaziergang das ehemalige Staatsratsgebäude der DDR: Sozialismus zum Sonnenaufgang…

1950 war die Ruine des alten Hohenzollern-Stadtschlosses, das in der Weimarer Republik u.a. vom Kunstgewerbemuseum genutzt worden war, abgerissen worden. Man hätte das Stadtschloss damals wohl durchaus restaurieren können, aber so wirklich passte das Symbol des deutschen Kaiserreiches nicht zur neuen sozialistischen Republik. Der Schlossplatz wurde konsequenterweise in Marx-Engels-Platz umbenannt, in den 1960ern begann die Neubebauung: 1964 wurde das Staatsratsgebäude als Sitz des 22-köpfigen Staatsrates der DDR an der Südseite des Platzes eingeweiht, 1976 wurde der Palast der Republik fertiggestellt.

Man kann nicht sagen, die damaligen Architekten und Entscheider hätten keinen Sinn für Geschichte, Tradition und Gedenken gehabt: Den Haupteingang des Staatsratsgebäudes bildet ein rekonstruiertes Portal des alten Stadtsschlosses, integriert in den ansonsten kastig-kantig funktionalen dreigeschossigen Riegel, dessen Fassade mit Sandstein und rotem Granit verkleidet ist. Vom Balkon des „Portals IV“, dem einst zum Lustgarten hin ausgerichteten „Eosander-Portal“, hatte Karl Liebknecht am Nachmittag des 9. November 1918 die freie sozialistische Republik ausgerufen. Konkret hatte er das kurz vorher schon von einem Wagen aus vor dem Stadtschloss getan, bevor er dann noch einmal den Schlossbalkon erklomm. Am anderen Ende von Unter den Linden hatte derweil Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstags die Deutsche Republik ausgerufen.

Der Kaiser hatte abgedankt, Scheidemann und mit ihm die Weimarer Republik machten am Ende das Rennen, Karl Liebknecht wurde 1919 ermordet und die sozialistische Republik musste auf ihren Auftritt drei weitere Jahrzehnte warten. Mit der DDR nun aber sei Realität geworden, wofür Liebknecht und Luxemburg damals vergebens gekämpft hatten, erklärt uns nicht nur das Portal zum Staatsratsgebäude, sondern auch das gigantische Glasfenster, das uns im Inneren empfängt: Über alle drei Geschosse erstreckt sich das von Walter Womacka gestaltete Glasfenster, das Szenen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt – und Portraits von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Das ehemalige Staatsratsgebäude ist nicht nur wegen des Portals ein interessantes Beispiel für den Umgang mit (politischer) Vergangenheit. Nach der Wiedervereinigung planten Bund und Senat den Abriss, der jedoch nach Protesten, unter anderem von Architekten, Kunsthistorikern, Stadtplanern und Regionalpolitikern, gestoppt werden konnte. Der Platz wurde wieder von Marx-Engels-Platz in Schlossplatz umbenannt, was dem ehemaligen Staatsratsgebäude nun die märchenprächtige Adresse „Am Schlossplatz 1“ beschert. Dort, wo einst Walter Ulbricht und Erich Honecker ein- und ausgingen, zog nach der Entscheidung für Berlin als neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands, zunächst der für den Hauptstadtumzug zuständige Arbeitsstab des Bauministeriums ein. 1999 wurden die Büroräume vorübergehend vom Bundeskanzleramt mit 450 Beamten genutzt. Helmut Kohl hatte das Gebäude nach persönlicher Begehung dafür „als geeignet befunden“ – letztlich war es dann Gerhard Schröder, der mit seinem Kabinett im ehemaligen Staatsratsgebäude tagte (bevor er 2011 als erster Kanzler den noch von Kohl beauftragten Neubau des Bundeskanzleramtes im Regierungsviertel bezog).

Und heute? Seit 2005 wird das denkmalgeschützte Gebäude, ehemals „höchste Einrichtung der DDR-Regierung“ ausgerechnet von einer privaten Wirtschafts-Elite-Schule genutzt. Die European School of Management (ESMT) hat hier ihren Sitz, gegründet auf Initiative von „25 führenden globalen Unternehmen und Verbänden“:

Airbus Group, Allianz SE, Axel Springer SE, Bayer AG, Bayerische Motoren Werke AG, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V., Daimler AG, Deutsche Bank AG, Deutsche Lufthansa AG, Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG, E.ON SE, GAZPROM Germania GmbH, HypoVereinsbank – UniCredit Bank AG, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, MAN SE, McKinsey & Company Inc., Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG, Robert Bosch GmbH, RWE AG, SAP SE, Siemens AG, The Boston Consulting Group, thyssenkrupp AG

Kapitalismus lernen unter den Augen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts? Zumindest das Foyer des Gebäudes ist nachwievor für die Öffentlichkeit jederzeit frei zugänglich („…aber bitte nicht die Treppe betreten“, werde ich freundlich hingewiesen…). Seit dem 50jährigen Bestehen des Gebäudes in 2014 gibt es am Fuße der Treppe zudem eine Multimediashow zu betrachten, die in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum entstanden ist.

Führungen durch das Gebäude werden (nach Anmeldung) an jedem letzten Freitag im Monat angeboten. Zu bewundern sollen dann u.a. auch die legendären Lederfliesen und der von Günter Brendel im Festsaal gestaltete Wandfries zum „Leben in der DDR“ aus Meißner Porzellankacheln sein. Ich lasse mich überraschen – für den 24. Februar habe ich einen Termin ergattert. Was mir ein Bekannter die Tage bereits erzählt hat: Das Portal am Haupteingang sei gar nicht das legendäre „Portal IV“, von dem aus Karl Liebknecht gesprochen hat, sondern das „Portal V“. Das wäre ja schon wieder skuril – und irgendwie passend zum Sockel ohne Denkmal. Dem muss ich bei Gelegenheit noch mal nachgehen.

An diesem Morgen aber lasse ich einfach nur das Glasfenster auf mich wirken: Unter den Portraits von Karl und Rosa steht „Trotz alledem“, Titel des vertonten Gedichtes von Freiligrath, das dieser nach der gescheiterten Revolution vom März 1848 noch einmal umtextete, und Überschrift des letzten Artikels von Karl Liebknecht, erschienen in der Roten Fahne vom 15. Januar 1919. Dort heißt es „Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!“

Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich es als Provokation oder Ironie im besten Sinne empfinden soll, dass die angehenden Managerinnen und Manager jeden Morgen hier vorbeispazieren dürfen bzw. müssen. Auf jeden Fall finde ich es gut, dass diese „Kulisse“ erhalten wurde und wer weiß, auf welche Gedanken die jungen Studentinnen und Studenten am Ende unter den Augen Rosas und Karls kommen? Ich spaziere ins Büro, im Ohr den Soundtrack zum Themenmorgen: Hannes Wader sing Arbeiterlieder. Auch „Trotz alledem“, in der Version von 1977: „Trotz Mißtraun, Angst und alledem / Es kommt dazu, trotz alledem / Dass sich die Furcht in Widerstand / Verwandeln wird trotz alledem!“

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