Hausführung Geschichte durch den Reichstag. Angemeldet hatte ich mich schon vor Wochen online über den Besucherdienst des Deutschen Bundestags. Herr W., der uns durch das „Hohe Haus“ führt, macht einen wirklich guten Job und vor allem: Lust auf Demokratie.
Nach dem Sicherheitscheck am „Besuchercontainer“ warten wir in Gruppe mit unseren Besucherausweisen mit der Aufschrift „HFG“ (= Hausführung Geschichte) um den Hals, bis wir von einem freundlichen jungen Mann die Treppen hoch zum Reichstag an die Sicherheitsschleuse geführt werden, hinter der Glastür erwartet uns eine ebenso freundliche junge Frau, die uns an Gerhard Richters Kunstwerk „Schwarz, Rot, Gold“ zu Ledersofas im Foyer führt, den Weg zu den Toiletten zeigt und uns noch um einen kleinen Moment Geduld bittet. Pünktlich um 10.30 Uhr erscheint Herr W., der soeben eine andere Gruppe verabschiedet hat, und startet durch.
Am kleinen „Tastmodell“ des Reichstags gibt es mit Hilfe von Spielfiguren eine schwungvolle Einführung in die Geschichte des Gebäudes, das 1894 vom Architekten Paul Wallot errichtet wurde. Der Balkon, von wo Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausrief (wie Karl Liebknecht am selben Tag vom Balkon des Stadtschlosses aus). Der Reichtstagsbrand vom 27. Februar 1933 (und der Umstand, dass man schlicht nicht beweisen kann, dass die Nazis damals möglicherweise ihre Finger mit im Spiel hatten – so sehr sie auch von der Situation profitiert haben mögen). Die Stelle, an der ein sowjetischer Soldat nach der Schlacht um Berlin als Symbol für das Ende des Nationalsozialismus die rote Fahne auf dem Reichtstag am 30. April 1945 hisste und die Stelle, wo das berühmte Foto, das um die Welt ging, zwei Tage später nachgestellt wurde. Die Jahre des drei-geteilten Deutschlands (denn, wie Herr W. betont, wird viel zu oft vergessen, dass Berlin einen Sonderstatus hatte), in denen der Reichstag direkt an der Mauer auf Westgebiet stand, und der Umbau in den 1960er Jahren durch den Architekten Paul Baumgarten zur Nutzung als Ausstellungsfläche. Die Wiedervereinigung und die knappe Entscheidung des Bundestages für den Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin – mit 338 zu 320 Stimmen. Schließlich der Umbau durch den britischen Architekten Norman Foster, der eigentlich ein flaches gläsernes Dach über das gesamte Gebäude hatte legen wollte, dafür aber keine Mehrheit fand („Soll das die Tanke der Republik werden?!“) und stattdessen die von innen begehbare Glaskuppel entwarf und realisierte. Seit 1999 tagt der Deutsche Bundestag in Berlin. Unser Guide schafft es, den großen Überblick in nur 15 Minuten zu vermitteln und dabei auch noch kleine Details wie Salz in die Suppe zu mischen. Ich bin beeindruckt. Und dann geht der Rundgang ja erst richtig los.
Es sind wenige, ausgewählte Stationen, aber die haben es in sich. Die von der Künstlerin Katharina Sieverding gestaltete Gedenkstätte für die von 1933 bis 1945 verfolgten und ermordeten Mitglieder des Reichstags der Weimarer Republik – ein Raum im Erdgeschoss, Abgeordnetenlobby, Ruhe- und Rückzugszone und gleichzeitig ein Raum des Gedenkens. Ein großes fünfteiliges Fotogemälde an der Wand, lodernde Flammen der Sonnenkorona, davor drei Tische mit drei Gedenkbüchern – in der Mitte ein Buch mit Biografien der 120 ermoderten Reichstagsmitglieder, links und rechts wird der Abgeordneten gedacht, die inhaftiert wurden oder emigrieren mussten. Hier wird kein Unterschied zwischen Parteibüchern gemacht, hier geht es um alle Abgeordneten, die damals Widerstand geleistet und verfolgt, verhaftet, getötet wurden. Er erzählt von Begegnungen bei anderen Hausführungen mit Angehörigen derer, denen in den Büchern gedacht wird, berichtet von einzelnen Schicksalen. Es macht nachdenklich.
Auf dem Weg zur nächsten Station noch ein kurzer Exkurs zur praktischen Abgeordnetentätigkeit, der Rufbereitschat, für den Fall, dass nach Art. 39 GG Sondersitzungen des Bundestags einberufen werden (was selten der Fall ist, zuletzt aber bspw. im Sommer 2015 gleich zweimal vorkam wegen der Griechenland-Krise) und der Bedeutung der weißen und roten Lampe, die an jeder Uhr in jedem Raum im Gebäude zu finden sind: Leuchtet die weiße Lampe auf, findet eine einfache Abstimmung im Plenarsaal statt, leuchtet die rote auf, gibt es eine namentliche und bei weiß-rot, gibt es einen „Hammelsprung“ – alle Abgeordneten verlassen den Plenarsaal und betreten ihn einzeln durch die jeweilige Tür ihrer Wahl: „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“. Die Ergebnisse zurückliegender namentlicher Abstimmungen kann man übrigens hier einsehen.
Dann gehen wir zum „Andachtsraum“, der komplett vom Düsseldorfer Künstler Günther Uecker gestaltet wurde. Man könnte meinen, der Kubus aus Granit sei ein Altar, es gibt Holzstühle in Reihen und es gibt diese großen an die Wand gelehnten Bilder mit den für Uecker typischen Nägeln, mit Sand und Farbe. Auf einem kann man ein Kreuz erkennen, aber es ist keine christliche Kapelle. Eine solche dürfte und könnte es auch nie im Bundestag geben, denn Deutschland ist säkularer Staat, es gibt Religions- und Meinungsfreiheit, erläutert Herr W. und hält dabei ein flammendes Plädoyer für die Grundrechte. Dieser Raum soll Ort der Andacht und Meditation für alle sein. Praktisch, so erfahren wir auf Nachfrage, ist es trotzdem eher selten, dass Abgeordnete den Raum tatsächlich für kontemplative Einkehr nutzen. Der pragmatische Grund: Man muss jederzeit damit rechnen, dass wieder eine Besuchergruppe, wie wir es sind, hereinkommt. Durchschnittlich besuchen täglich etwa 6.000 Gäste den Deutschen Bundestag (4000 davon gehen zwar ausschließlich auf die Kuppel, bleiben aber immer noch 2000 weitere Menschen übrig – und auch während wir im Raum sind, geht kurz die Tür auf, weil eine andere Gruppe wartet). Mir gefällt es hier trotzdem. Das Tageslicht strömt nur indirekt in den Raum, der wirklich eine besondere Wirkung hat, selbst wenn man mit 30 Fremden zusammen hier drinnen ist.
Weiter geht’s vorbei an Wänden: Überall wurden Graffitis sowjetischer Soldaten nach der Eroberung des Reichstags, Siegerbotschaften, konserviert und erhalten. Als historische Spur, als Mahnung – in alle Richtungen. Herr Wagner redet über das besondere Verbrechen der Nazis, die Verbrechen der Alliierten nach dem Sieg über Nazideutschland. Er berichtet von den Erfahrungen von Zeitzeugen und über das abgrundtief hässliche Gesicht eines jeden Krieges. Über Massaker, Vergewaltigungen – nicht nur in Berlin, sondern auch in Srebrenica, in Aleppo. Die Gruppe ist still.
Was folgt, ist cool, aber für heute nicht mehr wirklich relevant: Die Tür des Büros der Kanzlerin, ein kurzer Stopp auf der Besuchertribüne des Plenarsaals, Anekdoten zu Sitz-, Haus- und Kleiderordnungen. Dann werden wir entlassen, uns an der Schlange zum Aufzug rauf auf die Kuppel anzustellen. Und während wir warten, begrüßt Herr W. eine Etage tiefer schon die nächste Gruppe. Ich denke mir, gut so – hört hin, denkt nach und nehmt was mit. Auf dem Dach des Reichstags ist es windig, das Wetter ist grau, der Blick aus der Kuppel dennoch überwältigend, Selfies aber machen wir keine mehr.
Mehr Informationen:
Alle Infos und Online-Anmeldung zum Besuch des Bundestags (Kuppelbesuch, Führungen zu Architektur und Kunst oder Geschichte, Besuch von Plenardebatten, Führungen im Paul-Löbe-Haus oder dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus) gibt es unter: www.bundestag.de/besucher
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